Diamantene Hochzeit der Eheleute Helma und Johannes Lieder
Ehepaar Helma und Johannes Lieder. Foto: Josefa Braam
(jb) - Ihre frühe Kindheit verbrachten Helma und Johannes Lieder an der Wolga, dort, wo deutsche Siedler in einer autonomen Republik einst friedlich ihrer Beschäftigung nachgingen, ihr Brauchtum und ihre Sprache pflegten. Nur wenige Jahre konnten die beiden behütet und unbekümmert in dieser heilen Welt leben, bis das Schicksal erbarmungslos zuschlägt, ihnen keine Chance lässt, Kind zu sein. Im Jahre 1937 erkrankt die Mutter von Johannes an Typhus, der Siebenjährige muss ihren Tod verkraften. Eine Tante nimmt ihn und seine beiden Geschwister auf. Sein Vater wird zwei Jahre nach Kriegsende aus dem Zwangsarbeitslager, gesundheitlich schwer angeschlagen, zurückkehren und bald sterben.
Die kleine Helma wächst mit sechs Geschwistern in einem fürsorglichen Elternhaus auf. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges aber gerät der Vater ins Visier des kommunistischen Geheimdienstes NKWD, wird abgeholt und bleibt verschollen. Ihre Mutter stirbt fünf Jahre später.
Doch es sollte noch schlimmer kommen. Im Juni 1941 verändert sich die Welt der Wolgadeutschen schlagartig. Von Stalin der kollektiven Kollaboration beschuldigt, werden die Bewohner nach Sibirien deportiert, ihre Dörfer und Siedlungen zerschlagen. Da ist Johannes zwölf und Helma neun Jahre alt. Es folgt eine bitterarme Zeit, die von Kälte, Elend und unsagbarer Not geprägt ist. Unter härtesten Bedingungen hausen die Vertriebenen bis zu zehnt in einem Raum, können kein Wort russisch, die deutsche Sprache ist verboten. Der Hunger treibt die Kinder auf die Straße: „Wir haben bei den Russen gebettelt und mancher hatte doch Mitleid mit uns", berichtet der 80-Jährige und fügt hinzu: „Schon als Kinder haben wir schwer arbeiten müssen". Das gemeinsame Schicksal schweißt die Wolgadeutschen zusammen, sie treffen sich untereinander. Und da sind sich auch die beiden Vollwaisen näher gekommen. An einem kalten Tag im Februar 1952 haben sie sich das Jawort gegeben, ohne Pomp und kirchlichen Segen; Christsein war verboten, die Kirchen von den Sowjets zweckentfremdet. Lange hat es gedauert, bis das junge Ehepaar zusammen eine kleine Wohnung beziehen konnte. Ende der 60er Jahre wurde ihnen ein kleines Stück Land zugewiesen, sie bewohnen ein Häuschen, halten Schweine, ein Paar Kühe und Federvieh, sind endlich Selbstversorger.
Viele Jahre war Johannes Lieder als Traktorfahrer auf den Kolchosen im Einsatz. Im Schichtdienst - zwölf Stunden am Tag, zwölf Stunden in der Nacht - ist er bei Wind und Wetter über die weiten Felder Sibiriens gefahren, hat geackert, gesät und die Ernte eingefahren. 25 Jahre lang konnte er dann noch als Schlosser arbeiten, ein Privileg, endlich war er nicht mehr Tag und Nacht der rauen sibirischen Witterung ausgesetzt. Seine Ehefrau arbeitete als Pflegerin im Krankenhaus und abends gemeinsam mit ihrem Mann auf Feld und Hof.
Die Sehnsucht nach einem freien Leben war bei Helma und Johannes Lieder immer da. Mitte der 90er Jahre durften sie endlich in das Ursprungsland ihrer Ahnen ausreisen, die einst vor mehr als 200 Jahre von Hessen nach Russland aufgebrochen waren. Dass sie einmal in das Land ihrer Väter zurückkehren würden, hätten sie nie gedacht. Mit ihren drei Kindern und deren Familien kamen sie nach Hochheim. Es war ein Aufbruch in eine andere Welt, die bunt und schillernd war. Für ihre Kinder aber war der Anfang nicht leicht, sie waren der deutschen Sprache nicht mächtig. Heute arbeitet die Tochter als Buchhalterin, die beiden Söhne verdienen in der Industrie den Unterhalt für ihre Familien.
Helma und Johannes Lieder leben bescheiden in einer kleinen Wohnung im Altenwohnheim in der Schwedenstraße. Noch immer ist etwas zu spüren von der Bedrängnis, der sie über lange Jahre ausgesetzt waren. Das Paar ist zufrieden, fühlt sich wohl in unserer Stadt, hat es doch das wieder gefunden, was ihnen in der Kindheit genommen wurde: die Freiheit. Bei dem Jubilar aber hat das schwere Los Spuren hinterlassen. Mehrmals wurde er bereits am Herzen operiert, ein Schlaganfall folgte. „Ohne meine Frau könnte ich das alles nicht". Sie ist sein starker Anker, eine rüstige, zupackende Frau, die das schwere Schicksal nicht brechen konnte. „Erst hier in Deutschland haben wir ein Leben", nickt sie und hat nur einen Wunsch: „Noch ein paar Jahre alleine zurechtkommen, das wäre schön". An diesem Sonntag feiern Helma und Johannes Lieder ihre diamantene Hochzeit mit ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln.