Seit dem Sommer dieses Jahres hat sich der bürgerlichen Vorstellungswelt ein neues Schlagwort bemächtigt, das für die nötige Gemütserregung sorgt, das Sensationsbedürfnis befriedigt und jene typische Scheinheiligkeit der bürgerlichen Klassensphäre ermöglicht, sich moralisch zu entrüsten und zugleich alle Verantwortung von sich abzuschieben. Den Bürger gruselts, die menschlich-allmenschliche Reserve an Sentimentalität kommt zum Verbrauch, das gute Herz taut auf. Nach Menschlichkeit, nach Hilfe schreit der am lautesten, der weil selbst unmenschlich, nicht imstande ist zu helfen, denn das würde bedeuten, daß er selbst von der Bildfläche erst verschwinden muß. Eine Panik voll erlogener Gütephrasen wirbelt auf wie ein Nebel, die eigene Verwesung zu bemänteln. So ist die Linie gefunden, auf der die internationale Bourgeoisie herangeht an das Menetekel dieses Jahres: Hunger in Rußland.
Die Hungerkatastrophe an der Wolga — wie im innersten Lebensnerv getroffen starrt das internationale Proletariat auf das Ringen der russischen Genossen um Durchdringung und Entfaltung der kommunistischen Wirtschaft, die einer neuen und immer schwereren Belastungsprobe ausgesetzt ist. Die unerhörte gewaltige neue Anspannung jenes Vortrupps, der 1917 die Weltrevolution entfesselt hat, läßt die eigenen Leiden gering erscheinen und fast vergessen. Die Bourgeoisie der kapitalistischen Länder glaubt den Weg frei, sich aus der Schlinge zu lösen. Das Proletariat des eigenen Landes scheint in der Initiative gelähmt, sich in direktem Angriff selbst zu befreien, das eindeutige Kampfziel in seiner Richtungsspitze verbreitert sich und verflacht in theoretische Haarspaltereien über vergangene und zukünftige Revolutionsentwicklung. Die Gegenwart stöhnt, enervierend in ihrem schwindenden Bewußtsein von der Bedeutung des Proletariats als Klasse. Der Antrieb läßt nach, der in irriger und in eigener Schwäche begründet war, daß das russische Proletariat die soziale Revolution in Deutschland oder in England oder wo sonst immer in Gang bringen wird. Vier Jahre lang, eingelullt von Führerstreitigkeiten untereinander, warten dort die Arbeiter darauf, daß über Nacht, einmal an einem schönen Hoffnungsmorgen dort die russische Rote Armee da sein und ihnen die Schlüssel zur Produktion und zur proletarischen Macht feierlichst überreichen wird. — So nun macht weiter, richtet Euch jetzt ein — jahrelang hat man nur über das „was dann weiter" gestritten. Der Traum scheint ausgeträumt.
Wieder ist Rußland in Not — wie schon ach so oft. Erst die Konterrevolution, die Denikins und Koltschaks, die Interventionen, die Transportkrise,, die Sabotage im Innern, jetzt der Hunger. Der Arbeiter in Berlin und Essen, Paris oder Roubaix, Livorno, Antwerpen, in Glasgow und Manchester, in Philadelphia und überall in der kapitalistischen Welt senkt den Kopf.Statt den Kopf höher zu heben, statt sich aufzurichten, die Brust zu spannen, das Brett weg vom Schädel! Hungern die Arbeiter oder Arbeitslosen, was ja heute schon dasselbe ist, in Österreich und Deutschland, in Paris oder London und New-York etwa nicht? Kommt es vielleicht nur darauf an, daß mancher am Wochenende sich gerade sein Brot kaufen kann? Und gibt es keinen unter Euch, die diese Schrift lesen, der noch kein Hundefleisch gefressen hat? Wast ist überhaupt Hunger — und wo sind die Satten, die Zufriedenen mit Gott und der Welt und wie alles so schön eingerichtet ist im Himmel und auf der Erde —? Eine Flut von Korrespondenten aller Kaliber ergießt sich über Rußland auf der Jagd nach Greuelgeschichten. (Ihr braucht keine Angst zu haben, ich werde auch damit nicht sparen). Man liest, wie die Menschen sterben. Man hört das Sterben. Die Menschen sterben in allen Tonarten. Viele ent¬decken die Unterschiede — die Männer, die Frauen, die Kinder, selbst die ganz alten Leute. Der Bürger seufzt über die Kinder, macht er nach gutem Frühstück sich doch selbst gern kindlich. Denn das eine imponiert dem Bürger: da ist erst die böse Sonne, die das meiste verbrennt, dann die Heuschrecken, die alles wegfressen und schließlich die Kommunisten, die den Rest nphmen — das paßt fein zusammen. Jetzt, Proletarier, Hand aufs Herz, das manchmal leicht in die Hosen rutscht: Ist das alles? Die Heuschrecken spielen ja schon in der Bibel eine Rolle, die Sonne, das weiß jeder, scheint manchmal und wenn es regnet, scheint sie nicht. Das steht fest. Wer steckt da dahinter — da ist nichts zu machen, denkt der Bürger, wenns grade paßt. Wir wissen aber längst, daß es ein Wirtschaftssystem gibt, das mit solchen Zufällen fertig wird, eine Wirtschaftsführung, die die Naturgewalten in ihren Dienst zwingt. Nur ist sie, die kommunistische, die kollektive gemeinschaftliche, in der alle für das Gemeinsame arbeiten, wo der Profit des Einzelnen keine Bedeutung und keine Berechnungsgrundlage mehr hat, wo der Ueberschuß des einen Teiles den Ausfall eines anderen automatisch ausgleicht, wo Bewässerungs- und Meliorationsarbeiten in einem Maßstabe möglich sind, an die Einzelrisiko und Einzelprofit sich nicht heranwagen können. Und so taucht die Frage auf, warum hat man das alles, wenn es doch möglich ist, nicht getan. Drohend steigt dieses Warum auf, wie eine Fanfare — unter den Höllenqualen, daß die Menschen sterben, die Erwachsenen und die Kinder, rettungslos zugrunde gehen müssen — oder glaubt jemand, die paar Tausend Büchsen kondensierte Milch können 30 Millionen Menschen retten? Heute sterben die Millionen in Rußland, morgen in China oder Indien — war das nicht schon immer so, ist es nicht wie eine Regel, die immer wiederkehrt? Ist die Arbeitslosigkeit in Europa und Amerika erst seit gestern? Seht Euch die bürgerlichen Klassen an, wie sie sich damit abfinden. Vielleicht gefällt Euch das? Aber davon später.
Nur ein Beispiel noch: Der europäische Krieg ist ja noch nicht so lange her. Manche von Euch werden noch nicht alles vergessen haben. Da las man auf der einen Seite die Klagen über die Verwüstungen, die grauenvollsten Schilderungen über das Elend des Krieges, die Schmerzensschreie der Verwundeten, das Jammern über die Toten. Auf der anderen Seite aber warf man sich in die Brust: Immer nur vorwärts, immer neue Millionen Menschen als Schlachtvieh opfern. Und so ging das Jahr für Jahr. Der Bürger zerdrückte wohl auch mal eine Träne, wenn das Kind, der Sohn, der Stolz der Familie mit unter den Gefallenen war. Das war Pech, das mußte er mit in Kauf nehmen. Heute hängt das Bild des Geopferten in Oel mit Orden und in buntem Rock an der Zimmer wand. Gegenüber aber steht der Kassenschrank. Der macht das Auge wieder trocken. Es war doch ganz schön und am Ende noch alles gut — ist auch Papier nicht mehr so viel wert wie Gold — Geschäfte kann man aber auch damit machen. Es ist ja nur ein Beispiel, aber es kommt Euch vielleicht so vor, als hätte es ein weltfremder Literat ausgedacht.
Den Spuren der Zeitungskorrespondenten folgend, trifft man in Saratow am Ufer der Wolga auf die Spitze jenes ungeheuren Zuges von Auswanderern, der sich von den südlichen und südwestlichen Wolgaländereien nach Westen ergießt, in die Gouvernements Homel und Briansk oder wenn bereits in Evakuierungslisten aufgenommen, nach der Krim oder in die Umgebung von Petrograd oder nach sonst einem Teil des russi¬schen Reiches. Auf dem Wege nach Baronsk, einer der drei Zentren des Hungers, muß man in Saratow auf den Dampfer warten.
Es war schon die zweite Hälfte des Oktober. Die Sonne stand noch hell am Horizont, aber ein eisiger Wind ging durch alle Knochen. Von der hoch auf einem Plateau gelegenen Stadt, in deren schnurgerade breite Straßen von allen Seiten kahle Bergkuppen hineinsehen, eine Stadt, die in vielem an Salzburg oder Stuttgart erinnert, steigt man zur Wolga steil herab. Das Pflaster wird schlecht. Die Stadt, die geradezu einen für Rußland auffallend reinlichen Eindruck macht, duckt sich mehr zusammen. Das Straßenpflaster verschwindet. Auf der Straße bergab wäscht das Schneewasser große Höhlen. Ein kaputtes Wasserrohr gießt eine stinkende Flüssigkeit über die Vorübergehenden. Dann noch eine Biegung, ein den Atem raubender Pesthauch aus einem großen weißen Eckgebäude, das, wie ich später hörte, die Zentralevakuierungsstation ist, und man steht oben auf der natürlichen Dammhöhe der Wolga.
Unten vom Flußufer her grüßen die Pristans. Der Blick über die Wolga ist nicht gerade der reizendste. Eine breite Sandbank läßt für die Schiffahrt an den Saratower Anlegeplätzen nur eine schmale Fahrrinne frei. Von den Pristans scheints, wälzt sich ein dicker gelber Qualm das Ufer entlang. Die Sonne verschwindet, alles wird grau in grau. Und aus diesen beizenden Nebelschwaden tritt für das Auge erst allmählich das wimmelnde und krabbelnde Chaos heraus. So weit das Auge reicht ein Wandellager vieler Tausender von Menschen. Das sind die ersten Flüchtlinge — sagt man.
Aber ein Gang durch das Lager mutet einen seltsam an. Da sitzen mehrere Familien um das Feuer. Die Frauen hantieren mit großen Kesseln, in denen allerlei brodelt. Es riecht nach Fleich und Knoblauch, nach Kraut mit einem so eigentümlichen durchdringenden Geruch, daß man schon von einer besonderen Wolgaluft sprechen könnte. Und immer eine Gruppe neben der anderen. Der Lehmboden in scharfem Abhang zeigt viele Risse und Löcher. Dort hausen scheints Bevorzugte. Manche haben ein Zelt aufgeschlagen, viele bloß eine Seitenwand aus allerlei Lumpen. Die Menschen schwatzen und lachen. Die Kinder tollen herum. Es sind nicht allzuviel Feuer. Das Holz ist knapp. Man holts aus den schon morschen Schuppen. Ein Mann schlägt mit der Axt ein Stück los vom Eckpfeiler eines Häuschens, das als Pfahlbau in die Luft gebaut scheint, und in dem die Karten für die Fahrt nach Ba¬ronsk ausgegeben werden. Früher mal — denn die fahrplanmäßige Schiffahrt ist be¬reits eingestellt. Nur noch Fracht- und Evakuierungsdampfer verkehren, man braucht keine Karten, nur
Erlaubnisscheine, und wenn erst das Fahrzeug wirklich am Pristan mal liegt, auch diese meistens nicht. Vereinzelt sieht man auch Wagen mit Lumpen und Gerumpel, einige vermummte Gestalten darauf, regungslos und wie verwunschen. Aber durch die Tausende von Menschen, die hier zusammengepfercht liegen, drängt sich das Vieh. Pferde und Kühe spazieren herum, ganze Horden Hunde und ab und zu ein Schwein, das schwarze Schwein der russischen Steppe. Sind das wirklich alles Fluchtlinge? — zum ersten Mal taucht die Frage auf. Die Leute sehen gar nicht so schlecht aus. Sie sind munter und guter Dinge. Der gellende Kinderlärm bleibt einem in den Ohren. An den Zugängen zu den Pristans, den schwimmenden Quaischiffen, ballen sich die Menschen zu dicken Haufen, eine schwarze und undurchdringliche Masse. Dort sind Buden und Tische aufgeschlagen, fünfzig vielleicht, nein Hunderte nebeneinander. Mit Wurst und Fleisch, wirklich, in phantastischer Menge, Brot, Weißbrötchen und Wagenräder von Brot, Kuchen und Bonbons, Melonen, Arbusen und Kürbisse, Berge von Weintrauben, Aepfeln und Birnen. Samowar neben Samowar zischt. Ströme von heißem Tee, Kaffee und Kakao. Man verkauft Zigaretten und Feuerzeuge, Benzin und Petroleum und überall dazwischen die Verkäufer mit gedörrten Sonnenblumen- und Kürbiskernen. Großhandelsmarkt.
Auf den Pristans das gleiche Bild. Niemand weiß, ob unser Dampfer geht. Die Nacht bricht an. Vielleicht geht morgen das Schiff, heißt es. Die Wartehallen sind längst überfüllt. Die Menschen liegen übereinander. An der zugigen Wasserseite erobere ich mir einen Platz für das Gepäck, auf dem man einen Augenblick ausruhen kann. Die Stunden vergehen. Es ist bitter kalt. Die Sterne wandern über den weiten Horizont. Vor mir, am Fuße eines Pfeilers, kauert ein Junge, schon seit Stunden, unbeweglich. Er starrt unverwandt auf mich. Vielleicht ein Hungerkind, denke ich. Aber es ist plötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Ich hatte gerade nicht aufgepaßt, nur einen Signalpfiff gehört, dann war das Kind verschwunden. Wohin, was wollte es, warum der Posten — jetzt wird der Pristan geräumt. Polizei-Miliz versucht sich Geltung zu verschaffen. Es ist nicht der erste Versuch. Die Patrouille droht, erregtes Stimmgewirr — aber alle bleiben. Oder wer geht, kommt in der nächsten Minute wieder an seinen Platz. Neben mir spricht jemand deutsch. Ich wende mich um. Viel¬leicht hat der Mann darauf gewartet. Ein Bauer spricht mich sogleich an „Was wollen Sie hier?" Ich gebe eine ausweichende Antwort. Er mustert mich. „Sie kommen wohl wegen der Armut? — Ach ja, da kommen viele." Sein Gesicht ist voller Runzeln, aber der prüfende schlaue Blick eines alten pfiffigen Bauern irritiert mich. Was will er? Was tut er hier — Auswanderer? Schließlich spricht noch ein anderer. Sie fahren nach Vieh in die Koloniedörfer. Sie selbst wohnen schon seit Frühjahr nicht mehr in den Kolonien. Man kann dort jetzt billig Vieh kaufen. — Ich schweige. Ich beginne die Menschen, die hier warten, zu verstehen. Es sind nicht alles Auswanderer.
DER MARXSTÄDTER BASAR
Ich stand von Anfang an den Berichten von den Basaren im Hungergebiet zweifelnd gegenüber. Ich fürchte, man wird auch mir nur halb glauben. Es ist nicht nur alles vorhanden, sondern es ist auch viel billiger als anderswo. Der Bürger denkt: Natürlich, die Hungerleider verkaufen eben alles, was sie noch haben; so kann man billig zu einem Pelz kommen. Das war auch mal so, im Sommer, als die Katastrophe einsetzte. Diese Stufe des Elends ist aber jetzt schon überschritten. Es ist nichts mehr da, womit der Bürger auf Gelegenheit spekulieren kann, wenigstens nicht auf dem Basar. Man spekuliert heute in Grundstücken und Evakuierungspapieren und mit dem Holz und Stroh der Dächer — aber davon noch später. Man lebt im Hungergebiet viel billiger als in irgend einer anderen Stadt Rußlands. Nach Moskauer Preisen be¬rechnet, kostet Brot, Butter, Milch etwa die Hälfte, Fleisch kaum mehr als ein Viertel. Man wird sich wundern, ja gibts denn das alles? Gewiß, und in ansehnlichen Mengen. Zwar gibt es vielleicht noch mehr Kuchen als Brot. Die Kuchen sind sehr billig. Vom reinsten Weizenmehl gebacken, Buttergetränkt, mit Schokoladenguß und Schlagsahne. Eine ganze Frontseite des Basars füllen die Kuchen- und Konfektstände. In mehreren Buden trinkt man einen großartigen Bohnenkaffee, Kaffee a la Warschau, Kaffee mit einer hohen Haube Schlagsahne. Querüber auf der anderen Seite sind die Fleischstände. Es wirkt phantastisch, welche Riesenmengen Fleisch zum Verkauf gestellt sind. Da hängen reihenweise Hammel und Schweine. Ein westeuropäischer Großschiachter würde vor Neid platzen. Und das Fleisch ist, mit den Bürgern zu reden, spottbillig. Ich habe nicht gesehen, wer das alles kauft. Irgendwo muß es aber doch hinkommen, denn jeden Morgen ist immer, scheint es wenigstens, frische Ware da. Ich kam gerade an dem Tage zum ersten Male auf den Markt, als bekannt wurde, daß die Tarifsätze der Arbeiter und Angestellten zum nächsten Ersten erhöht werden sollten. Daraufhin stiegen alle Produkte sofort um 30 Prozent. Vorher also, um nochmal mit dem Bürger zu sprechen, hatte man es geradezu geschenkt bekommen. Ich fragte meinen Begleiter und tat, als verstände ich nicht, denn die Leute kommen doch günstigstenfalls erst in sechs Wochen in den Besitz ihres höheren Lohnes —? Er lächelte und wußte es auch nicht. In den Nachmittagstunden waren aber trotzdem Kuchen und Fleisch, Eier und Brot zu den höheren Preisen verschwunden. Das ist die eine Seite des Marktes. (Wir sprechen schon davon noch.)
Der Basarplatz, sagt man, ist zu klein geworden. Die Verkäufer fanden nicht mehr Platz genug. Ich konnte nicht herausbekommen, ob man jetzt erst umzieht oder schon umgezogen ist. Ich sah den Basar aufgeschlagen auf einem Friedhof, neben der katholischen Kirche. Den Pfarrer sah ich auch auf dem Basar. Er verkaufte nichts, er kaufte. Der Boden war festgestampft wie Stein und hügelig. Man hatte einen wundervollen Blick in die weite unermeßliche Steppe, am Westrand der Stadt. Die Kirche ist ziemlich das letzte Haus. Gegenüber steht das ehemalige Kaufmannshaus, jetzt der Agitpunkt, ein Mungermuseum ist darin. Man schenkt unentgeltlich dort Tee aus. Aber als ich hineinging, stoben zwei alte Frauen auseinander. Es kommt so selten jemand. Vor der Tür aber ist das Marktgewühl. Zwischen Agitpunkt und Kirche ist der Friedhof. Dort ist der Basar. Ich las schöne deutsche Trostsprüche. Manche Grabsteine sind umgestürzt. Man muß sich vorsehen, um nicht die Knochen zu brechen. Augenblicklich, heißt es, begräbt man weiter draußen in der Steppe. Ich sah einen solchen Leichenzug. Selbstverständlich nicht nur einmal. Das ist sozusagen das erste, was man in Marxstadt sieht. Aber nur einmal einen richtigen mit dem Pfarrer nämlich. Es gibt keine Pferde, außer für die wichtigsten staatlichen Transportarbeiten. Gestalten, die man als Leichnam hätte ansehen können, trugen auf den Schultern den Sarg, vielleicht eine. Werst weit in die Steppe. Dahinter schwankten ein paar völlig vermummte Weiber. Sie sahen so vermummt aus, weil sie aus allerhand Einzelstücken von Lumpen notdürftig den Oberkörper vor Kälte schützen wollten. Ein Schneesturm, der auch mit Eisstücken um sich warf, ging ganz barbarisch mit diesem Zuge um. Vorneweg aber fuhr der Pfarrherr in einem Kutsch wägeichen, ein »feuriges Pferdchen am Zügel, das Fell glänzte durch den Schnee. Die große Glocke der Kirche läutete schwer und melan-' cholisch, wie in den Kindheitstagen in mainer katholischen Vaterstadt.
Aber zum Markte zurück. Zu meinen ersten Eindrücken gehören auch die Verkaufsstände von Werkzeugen, Geschirren und Grammophonen. Der eine davon war in Tätigkeit und verkündigte den andächtig Lauschenden eine Rede Wilhelms des Einfältigen, unterbrochen von einem Präsentiermarsch. Mancher Bauer, der drüben von der Russen¬seite jenseits der Wolga herübergekommen war, lernte vielleicht dabei zugleich die deutsche Sprache. Ich entfernte mich, als der Apparat gerade dreimal Hurra schrie. Nicht weit ab stand ein Mann mit einer Drehorgel. Es war ein altes deutsches Kirchen¬lied, was da vor sich ging: Nimm mich in deine Hände, Herr Jesu Christ — und da¬neben stieß eine ganz verhutzelte Bäuerin ihre Tochter, die mit vor Kälte verweinten Augen vor ihr stand, an: Horche noch mal, das hat ganz gefährlich schön geklunge . Und dann wollte ich gehen.Da sah ich noch, etwas abseits, eine große Menge Menschen auf einem Haufen. Eine öffentliche Versteigerung. Inmitten eines dichten Kreises stand ein ältlicher Mann mit noch straffen Gesichtszügen, klarem Adlerblick, der Typ eines süddeutschen Bauern und hielt einen alten Regenschirm hoch. Ihm gegenüber stand der Mann, der die Gebote annahm und ausrief. Der erste pries fortgesetzt die Güte des Schirmes oder schnarrte verächtlich den gebotenen Preis nach. Ich dachte: Ein Lichtblick. Denn daneben, auch mitten im Kreis, stand ein in Lumpen gehülltes Weib, das sich kaum auf den Beinen zu halten schien, den Kopf gesenkt, wie als müßte sie eine fürchterliche Prüfung über sich ergehen lassen. Es lag offenbar. Das ist die gegenseitige Hilfe, — dachte ich. Die Frau traut sich nicht mehr, selbst zu verkaufen. Hilfsbereite veranstalten für sie eine Versteigerung. Schließlich wurde für 20 000 Rubel der Schirm losgeschlagen. Die Frau sah dankbar auf den Käufer und sah zitternd den anderen die Papiere in Empfang nehmen. Während die Menge auseinanderging, wurde ich einen Augenblick abgedrängt. Ich sah die beiden Männer und noch einen dritten um das Mütterchen stehen. Ich kam gerade noch zurecht, um zu sehen, wie jeder der drei sich 4000 Rubel abzog, die Frau erhielt im ganzen 8000 Rubel. Das ist hier so Brauch, sagte mir einer. Dann ging ich. Das waren die ersten Eindrücke. Ich kann mir nicht helfen, vielleicht glaubt man mir's nicht
Ich hatte nichts zu kontrollieren.Ich bin nicht Mitglied einer Kommission Mich trieb nicht einmal die Neugierde, denn ich wußte alles vorher. So verzichtete ich auf' örtliche Begleiter, örtliche Erlaubnisscheine. Und ich kam überall hinein, an dem schreckensvollen Gesicht manches Beamten sah ich, daß ich auch ganz unerwartet kam. Aber ich hatte auch nichts zu kontrollieren oder zu berichten. Es handelte sich ja nicht um die Einzelheiten, sondern um die Atmosphäre des ganzen.Im Sommer, als die Choleraepidemie einsetzte, hatte man noch eine Cholerabaracke, draußen vor der Stadt an der Wolga, im Ueberschwemmungsgebiet des Flusses. Die Heftigkeit der Epidemie machte im Augenblick alle Anlagen illusorisch. Es konnten nicht mehr alle Kranken aus der Stadt, geschweige denn aus dem Gebiet aufgenommen werden. Es waren aber strenge Vorschriften — und so brachte man denn auch alle Kranken pflichtgemäß nach der Baracke. Was mit den Kranken geschah, was nun weiter werden sollte, ob sie Pflege finden würden, Sanitätsmittel, Reinigungsmöglichkeiten und Nahrung — danach traute si:h niemand zu fragen. Dort lagen nun die Kranken, zu ganzen Haufen übereinander, Tote, Lebende und noch Lebende, alles im gleichen Raum auf dem Fußboden, und wer noch Leben in sich hatte, wartete auf den Tod.
Verpflegungspersonal gab es nicht. Es waren kaum Leute da, die die Toten begruben. Aber das alles ist Erzählung. Bleiben wir in der Gegenwart. Die Choleraepidemie ist zurückgedrängt. Sie hat dem Typhus Platz gemacht. Zu der Zeit wütete der Typhus ganz schrecklich. Zwei großi Privathäuser mußten geräumt werden, mit Gewalt wurde für die Kranken Raum geschafft. Aber man hatte keine Bettgestelle, keine Decken. Das Haus war auch für alles andere als für ein Krankenhaus gebaut. Die eingelieferten Kranken wurden auf den Fußboden gelegt, mit ihren Lumpen zuge¬deckt. Bi; zu 60 Kranke zählte man auf ein kleines Zimmer. Gut die Hälfte konnte man am nächsten Tage schon wieder heraustragen. Dann wurden aus den beiden Gefängnissen die Pritschen geholt. So sah ich es. Die Pritschen standen in der Mitte des Zimmers. Sie müssen nach beiden Seiten Raum geben, daß zwei, manchmal auch drei Menschen darauf Platz finden. Auf diese Weise schafft man für etwa 40 Kranke Liegemöglichkeit. Decken und Wäsche hat man noch nicht. Man hofft indessen noch welche zu bekommen. Medizin könnte man den Kranken schon geben, aber es gibt keine Nahrungsmittel, die man ihnen geben kann. Sie bekommen eine dünne Krautsuppe und ein halbes Pfund Brot, das ist alles. Es sind 800 Kalorien, aber 2400 braucht der Mensch täglich zur Ernährung. Als ich da war, waren dem Arzt den Tag vorher ein paar Flaschen Wein zur Aufbesserung der Krankennahrung überwiesen worden. Er mußte selbst lächeln, als er mir davon erzählte. Wem sollte er wohl damit zuerst helfen — im Haus war kein Tropfen M;lch und kein Wasser, für über 200 Kranke zusammengepfercht auf 4 Räume und Küche. Gerade während wir sprachen, gingen draußen ein paar Bauersfrauen aus den Dörfern jenseits der Wolga vorbei. Drüben war die Erntekatastprophe nicht so schlimm. Die Bauern haben ihr Vieh behalten. Die Weiber trugen in Steinkrügen frische Milch auf den P?sar, gebratene Hühner hatten sie unter dem Arm; eine hatte einen großen Korb mit Eiern. Sehen Sie, sagte der Arzt, wenn wir das hier hätten — und er wandte sich von mir weg. Er hatte ganz recht: Was wollte ich eigentlich in diesem Haus — es ist kein Wasser da für die Kranken. Sie können nicht gereinigt werden. Sie liegen noch, den Körper mit Dreckkrusten überzogen, wie sie eingeliefert wurden. Das Wasser muß aus der Wolga geholt werden. Wer soll den Tonnenwagen ziehen —? Die staatliche Transportabteilung stellt täglich einmal ein Pferd. Mehr kann sie nicht. So bekommen die Kranken pro Tag eine Tonne Wasser. Damit soll gekocht, das Geschirr und die Produkte gereinigt werden, die notwendigen Arzneien bereitet, etwas für den Tee zurückbehalten werden. Wo bleibt dann der Mensch? Ein Tönnchen Wasser für 250 Menschen. Die Kranken liegen in ihren Lumpen und stöhnen. Das Fieber hat sie gepackt und die Erschöpfung. Wer leben will, muß sich aufraffen und sehen, wie er zu Hause wieder hoch kommt, sagt der Arzt. Eine Grube ist auf dem Hof für die Exkremente. Es ist ein menschenunmöglicher Gestank. Nachts stellt man eine Tonne auf den Flur für alle. Das Bedienungspersonal muß alle paar Wochen wieder gewechselt werden. Es waren gerade neue eingezogen. Sie sahen mich finster und mißtrauisch an und würdigten meine bescheidene Anfrage keiner Antwort. Ihre Vorgänger waren soeben hinausgeworfen worden. Sie haben aus der Suppe den Kranken noch das Kraut weggefressen. Das Wasser behielten sie für sich und schließlich weigerten sie sich, überhaupt weiter zu dienen. Die Verwaltung kann sie nämlich nicht bezahlen (man soll vielleicht sagen, nicht „pünktlich" bezahlen). Sie kann ihnen auch nichts zu essen geben (8 Pfund Brot für einen Monat als Gesamtpajok.) Man hat zu Anfang noch ein Auge zudrücken müssen, bis andere da waren, Hungerflüchtlinge, die zunächst noch froh sind, an der ersten Etappenstation wo unterkriechen zu können. Wie wird es nach drei Wochen aussehen — der Arzt ist ein junger melancholischer Kommunist. Der Versuch eines Vorwurfs erstickt auf der Zunge. Man braucht ihn nur anzusehen.Er hungert.
Die Kinderheime
Die Kinderheime auf den Dörfern sind wahre Höllen. Es erweist sich plötzlich, daß die Erwachsenen gar nicht wissen, wie sie mit Kindern umgehen sollen. Einige Menschen sind überall, mit vielem guten Willen, aber sie stehen ihrer Aufgabe hilflos gegenüber. Ein Befehl des Gebietsvollzugs-Komitees spricht von der Einrichtung von Kinderheimen und Sammelstellen. Der örtliche Sowjet hat das Schriftstück gewissen¬haft studiert und weiterverbreitet. Die Kinder werden nach einem Hause zusammengebracht. Freiwillige Helfer sind zur Stelle. Der Sowjet erhält die ersten Produkte zur Verteilung. Aber wie und was nun weiter zu tun ist, das weiß niemand. Die Bauern jagen ihre eigenen Kinder zum Hause raus — unnötige Esser. Man kämpft mehr um Pferd oder Kuh durchzubringen, als die eigenen Kinder. Mit Knütteln werden die Kinder aus dem Dorfe gehetzt. Geht, wo es zu essen gibt — heißt es. Die größeren Rayon-Dörfer haben nun die ersten Kinderheime. Die Menschen sind noch nicht viel besser dort. Wäre nicht der strenge Befehl, niemand würde die Kinder dort aufnehmen. Man versteht gar nicht, was man mit den Kindern soll. Die Erwachsenen und nicht nur die Wärter und Wärterinnen nähren sich von den Liebesgaben für die Kinder. Das sind die angeblich kulturell so hoch stehenden deutschen Wolgabauern. Sie verachten noch heute die umwohnenden Russen. Nirgends kann etwas ähnliches von den russischen Bauern berichtet werden. Die Kinderheime, obwohl die erste Rettungsstation, sind eine wahre Hölle. Glücklich, wenn das Kind nach ein paar Tagen noch Kraft genug findet, weiterzuwandern, nach den Gebietsstädten. In Baronsk heißt es, sind die Kinder dann gerettet. Ich habe die Heime auf den Dörfern wie in der Stadt gesehen. Ueber die letzteren will ich den Bericht folgen lassen, den eine den verantwortlichen Stellen nahestehende Genossin erstattet hat. Man mag ihn aufmerksam lesen, es handelt sich um die Stellen, wo die Kinder, wie man sagt, gerettet sind.
„Die aus den umliegenden Dörfern gesammelten elternlosen Kinder bis zu 14 Jahren werden zunächst in ein Sammelheim gebracht, von dem aus sie in die verschiedenen Gruppen verteilt werden. Nach ihrer Ankunft schneidet man den Kindern die Haare, um einer zu großen Verlausung zu steuern. Sie sind alle fast nur in Lumpen gekleidet. Da die andern Heime alle überfüllt sind, müssen die Kinder oft lange warten in dieser Sammelstelle. Hier sind die Zimmer vollständig ohne Möbel, die Kinder liegen auf dem kahlen Boden ohne Kissen und Decken. Einmal in drei Wochen hatte man die Möglichkeit, sie in ein Bad zu führen. Es sind einige Kranke unter ihnen, die aus Mangel an Platz und Betten nicht ins Krankenhaus überführt werden können. In drei Räumen sind zuweilen 120 Kinder, in jedem Zimmer eine Aufseherin. Die Kleinen hocken meist stumm am Boden, ab und zu weint eines jämmerlich, weil es wieder „nach Hause" will, das heißt, nach dem Bazar, oder dem Platz, von dem man es aufgelesen hat. Dreimal am Tag werden alle in eine Speisehalle geführt, morgens bekommen sie 54 Pfund Brot und etwas Tee ohne Zucker, mittags einen Löffel voll dasselbe wie zum Frühstück.
In den übrigen Heimen sind die Kinder in etwa 15 Gruppen eingeteilt, die sich meist in Schulen befinden. In drei bis vier großen Zimmern, deren Raum fast ganz durch die aufgestellten Holzpritschen, die den Kindern zum Schlafen dienen, einge¬nommen ist, sind vierzig bis sechzig Kinder untergebracht worden. Da sie keinen Platz in den Räumen haben, um sich zu bewegen, sitzen sie auch fast den ganzen Tag auf den Bänken. Man hört nicht den fröhlichen Lärm, wie es sonst bei so vielen Kindern der Fall wäre, einige hocken gänzlich apathisch und sind zu schwach, um zu sprechen. Tag und Nacht sind sie in derselben Kleidung, sie tragen Kattunmützchen, auf denen die Nummer ihrer Gruppe vermerkt ist. Auf jedes Zimmer kommen zwei Frauen, die die Aufsicht führen. Hier ist alles schon sauberer als in den Sammelstellen, obwohl man keine Besen hat. Man ist bemüht, ihnen Kleidung und Schuhe zu beschaffen, doch können immer nur einige etwas erhalten, für alle reicht es nicht. In diesen Gruppen werden Kinder von 6—14 Jahren aufgenommen. Es ist oft schwer, das Alter dieser Kleinen festzustellen, sie selbst wissen es häufig nicht, wie sie auch ihren Namen nicht kennen. Und nach ihrem Aussehen kann man sie nicht abschätzen, da es durch die ständige Unterernährung von jeder Norm abweicht. — Die Nahrung für alle Heime ist die gleiche. Sie wird aus derselben Küche verabreicht.
Für die Kinder, die fortgebracht werden, besteht ein sogenanntes Evakuierungsheim. Die Kleinen haben sich meist schon etwas erholt und sind ein wenig kräftiger. Man hat ihnen fast allen Kleidung und etwas Unterzeug gegeben, das jedoch, da es aus den Sammlungen vom Sommer her stammt, nur aus dünnem Kattun besteht. Warme Mäntel konnten bisher noch nicht beschafft werden, auch haben die größeren noch keine Schuhe erhalten können. Trotzdem sie nur dreimal des Tages den Weg bis zur Speisehalle machen, gehen sie nicht gern aus, weil sie zu sehr frieren, obwohl frische Luft für sie sehr nötig wäre. — Die Räume können nicht geheizt werden, doch ist es durch die Wärme der vielen kleinen Körper fast heiß im Zimmer, in dem die Kinder trotz aller Verbote immer wieder die Mützen auf dem Kopf behalten. Ab uud zu, so oft als möglich, besucht ein Arzt die Heime; doch ist es trotzdem nicht zu ver-meiden, daß einige Kranke unter den Kindern sind. Manche haben Augenleiden, die ansteckend sind, wie Trachom, bei einigen sind die Augen durch den Hunger mit einer weißen Haut überzogen.In jedes Heim kommt der Lehrer für einige Stunden, doch ist es kaum möglich, den Kindern etwas beizubringen, sie sind zu schwach, um zu lernen. Man hat ihnen im Evakuierungsheim ein paar Bilderbücher gegeben, die sie immer wieder und wieder still besehen. So warten die Kinder Tag für Tag, daß man sie fortbringt, wo es warm ist, sagen sie und man zu essen hat. — Und die andern warten wieder, daß sie an ihre Stelle in das Heim aufgenommen werden können. In den Krankenhäusern sind einige Abteilungen für die Kinder eingerichtet, ihre Krankheit ist fast immer nur Hunger, Entkräftung und Typhus. Bis zum Skelett abgemagert liegen sie meist ohne Bewegung, als wären sie schon tot, zu zweien oder dreien auf dem Strohsack einer Holzpritsche. Nachdem die furchtbare Zeit der Cholera- und Typhusepedemien, die im Sommer herrschten, etwas vorüber ist, war auch die Möglichkeit gegeben, den Kranken etwas mehr Raum zu verschaffen, und ihnen mehr Pflege zuzuwenden.Verhältnismäßig am besten gestellt sind die Kinderkrippen, welche die Kleinsten bis zum sechsten Jahre aufnehmen. Es sind dies alles Kinder der umliegenden Ortschaften, nur die Pflegerinnen vom Ort dürfen ihre eigenen Kleinen bei sich haben. In der Krippe gibt es Bettchen für die Kinder, und Tische, auf denen sie essen. Auf einem kleinen Teppich sitzen sie am Boden, sie haben etwas mehr Bewegungsfreiheit. Ihre Nahrung besteht aus einem halben Pfund Schwarzbrot pro Tag und etwas Ories-brei. Zwar haben die Krippen Kakao erhalten, doch hat man keinen Zucker, um ihn kochen zu können. Auch Milch ist nur ganz selten und nur in kleinen Quantitäten aufzutreiben. Häufig werden Kinder, an deren Aufkommen man bei der Aufnahme gezweifelt hat, doch wieder kräftiger, aber viele sterben auch.
Soweit der Bericht. Man muß zwischen den Zeilen zu lesen verstehen. Man wird solcher Darstellung weder Böswilligkeit noch Parteilichkeit vorwerfen können. Aber der Bericht verschweigt einiges. Er verschweigt, daß die Kinder, wenn sie zum Essenholen geführt werden, oft stundenlang vor der Ausgabestelle warten müssen. Sie stehen in ihren dünnen Röckchen barfuß im Schnee. Der Raum für die Essenausgabe ist so klein, daß man die Kinder drinnen nicht warten lassen kann. Keine Be¬rechnung des Essens ist möglich. Man kocht für 800 und muß schließlich 3000 Portionen ausgeben. Das verursacht Stockungen. Es ist ein Wunder, daß es überhaupt noch ein Angestellter in die Organisationsabteilung des Verpflegungskommissariats aushält. Wut und Verzweiflung, der ganze Jammer entlädt sich über sie. Alle satten Bürger, die ihren Kohlkopf gestiftet haben, mischen sich ein. Die Bude ist voll toben¬der und schreiender Menschen — draußen in der Kälte warten die Kinder, von Fieber und Typhus geschüttelt.Noch einen anderen Vorgang, dessen Zeuge ich gewesen bin, will ich hier anführen. An einer Straßenecke ballte sich ein Haufen Menschen zusammen, die aufeinander einschrieen. Sie standen im Kreise herum, und als ich näher trat, sah ich in der Mitte drei Kinder, die sich gegenseitig untergefaßt hielten. Zwei ziemlich gleichaltrige Jungen und ein Mädchen. Alle in Lumpen, nur der eine Junge trug Schuhe. Dem andern waren die Füße zu unförmigen Klumpen angeschwollen. Er konnte nicht mehr stehen und hing hilflos an den Armen der beiden anderen. Das Mädchen, daß ein dünnes Stück Leinentuch um die Beine geschlungen hatte als Rock, gab keinen Laut von sich und schaute unentwegt starr vor sich hin. Der andere Junge weinte und versuchte sich verständlich zu machen. Aber die Umstehenden verstanden ihn nicht, er quetschte die Worte mühselig raus — es war eine Qual zuzuhören. Die Leute aber stritten sich, was geschehen sollte. Eine Frau hatte die drei aus einer Vertiefung am Zaun aufgelesen. Dort hatten sie sich vor dem Wind verkrochen, weiterlaufen konnten sie nicht mehr. Die Frau hatte ein paar Männer angerufen, zu den Behörden zu gehen. Die einen drückten sich schnell, die andern unterhielten sich darüber, welche denn eigentlich in Betracht kämen. Einer kam und sagte, alle Stellen sind jetzt voll, vielleicht daß morgen ein Platz frei wird. Inzwischen sammelten sich immer mehr an. Ich sah, wie die Mehrzahl der Leute mit bösen Augen auf die Kinder sahen. Wäre ihnen die Möglichkeit gewesen, ihren Instinkten freien Lauf zu lassen, so hätten sie die Kinder am liebsten gleich totgeschlagen — die kulturell so hochstehenden deutschen Wolgabauern. Hochkommen tun die doch nicht mehr — sagte einer, und ein anderer schrie die Frau an, warum sie sich denn gerade an ihn wende, und er wies auf einen Nachbarn hin, der sich nun wiederum mit einer Flut von Beschimpfungen gegen ihn wandte. Indessen waren die Kinder wieder zu einem Häuflein Unglück zusammengesunken. Ein paar Frauen brachten sie wieder hoch. Es schneite, es war bitter kalt, ein eisiger Wind fegte durch die Straßen. Schließlich kam jemand auf den Gedanken, die Kinder in das Amt für soziale Fürsorge zu bringen. Und die Menschen griffen zu und schleiften, im buchstäblichen Sinne des Wortes, die erstarrten und geschwollenen Kinder dorthin, wie man etwa Säcke den Boden langzieht. Das Amt ist eine Geschäftsstelle, wie alle andern. Mit Bürodamen und vielen Wartenden im Vorzimmer. Dort wird und kann man keine Kinder aufnehmen. Man wird die Kinder, die dort vielleicht abgesetzt werden, sicherlich bald an die Luft befördern, im besten Falle nach Amtsschluß. Und selbst wenn man sich bemüht dort — die Unglücklichen brauchen nur eine Lager¬stätte, Wärme und eine kräftige Suppe Alles das findet sich in keinem Heim, in der ganzen Stadt nicht. Was wird also mit den drei unglücklichen Kindern geschehen? — Der Leser mag sich darauf selbst eine Antwort geben
Die Kino-Operateure, die den Mannheimer Rayon mit dem letzten, der Gebietsverwaltung gebliebenen Auto bereisten, bis auch dieses auf eben derselben Tour zum Teufel ging, wurden in den Dörfern mit Musik empfangen. Der Sowjet, der davon in Kenntnis gesetzt wird, wie ein Auto sich durch die Steppe heranwindet, zeitweilig verschwindend in den Gräben und Rissen, die die Dürre in den Boden gefressen hat, mobilisiert die noch nicht Verhungerten der ehemaligen Dorfkapelle, um die Fremden gebührend zu begrüßen. Alles was im Dorf noch laufen konnte, kommt auf die Straße. Allmählich werden die Gesichter lang, sehr lang. Welches auch der Zweck solcher Kommission sein mag, und seien es selbst Kino-Operateure, die mit einer An¬sprache über die bevorstehende Hilfsaktion über die Umherstehenden herfallen, wenn erst alles das gekurbelt sein wird — die Enttäuschung ist jedesmal ganz furchtbar. Ich selbst konnte in den Mannheimer Rayon nicht mehr hinkommen. Es fehlte an jeder Transportmöglichkeit. Man hofft bis zum Dezember einen regelmäßigen Transportverkehr mit Kamelen organisieren zu können. Das sagte man Ende Oktober. Die aber um jene Zeit aus diesen Gebieten kamen, erzählten Schreckliches. Es war mit dem letzten Transport, der nach dem Evakuierungssammelpunkt geleitet wurde. Auch Marienburger waren noch darunter.
Das Dorf sieht aus, als wäre es Zeuge eines gräßlichen Verwüstungskampfes gewesen. Reihenweise, ganze Straßenzüge, sehen die Häuser aus wie zerschossen und im Granatfeuer niedergelegt. Die Marienburger, eine Siedlung von nahezu 5000 Seelen, sind im ganzen Gebiet wenig geachtet. Alles Schlechte traut man von vornherein den Marienburgern zu. Ein hoher Verwaltungsbeamter nennt sie noch heute eine Horde von Banditen und Dieben, die am besten ausgerottet werden müßten. Die Marienburger sind eine katholische Siedlung inmitten von Lutheranern. Nicht weit davon ab sind die Mennoniten-Dörfer, die Wolga-Aristokratie. Man kann sich von dem religiösen Haß der Wolga-Kolonisten untereinander kaum eine Vorstellung machen. Die Mennoniten, die noch reichlich Pferde haben, deren Lage auch für die Heranführung der Verflegungshilfe besser ist, die sogar noch über Mehlvorräte verfügen, wenn auch nur für 2—3 Monate, reiben sich die Hände, daß neben ihnen die Marienburger verrecken. In diesem Dorf, über das die Katastrophe Ende Juni schon hereinbrach, gilt das Gesetz nicht mehr allzuviel. Schon zweimal ist der Sowjet im Laufe der letzten Wochen neu besetzt worden. Die Amtsvorgänger haben sich niederlegen müssen, das heißt, sie sind liegen geblieben und gestorben. Auch in Marienburg werden die Kommissionen trotzdem noch mit Musik empfangen. Es sind viele Justizkommissionen darunter. Die Marienburger sollten Angaben über die Herbstsaatfläche machen. Damals hat der Pfarrer den Marienburgern gesagt, Gott müsse ihnen helfen, und Gott werde erst die Sowjets strafen, die alles verschuldet haben. So hat man denn keinerlei Vorarbeiten in Marienburg gemacht. Dann kam die erste Panikwelle. Wer noch Lebenswillen in sich spürte, suchte fortzukommen. Ganz gleich auf welche Weise. Das Dach über dem Kopfe wurde verkauft, die Querbalken, aller Hausrat, die landwirtschaftlichen Geräte und Maschinen — alles wurde verschleudert. Die Mennoniten und die Russen aus dem Nebendorf von der andern Seite waren gierige Abnehmer. Aufs geratewohl, mit dem letzten Pferdchen fuhren die Leute los, ohne Ziel. Manche sind zurückgekommen, sehr viele aber sind auf dem Wege durch die Steppe zugrunde gegangen. Das war im August. Um diese Zeit ist der Pfarrer ausgerissen und hat seine Herde im Stich gelassen.
Das Gerücht kam, daß in den umliegenden Ortschaften Saatgetreide ausgegeben wird. Da sandten auch die Marienburger eine Delegation. Obwohl sie nichts vorbereitet hatten, erhielten sie schließlich auch Wintersaat. Aber man muß die Leute sprechen. Man muß die Unglücklichen erzählen hören, der Sowjet konnte sich nicht durchsetzen und dann, wie soll er auch anders sein als alle Marienburger — das Saatgetreide wurde zu zwei Drittel sofort aufgefressen. Ein ganz winziger Teil wurde ausgesät, ein Teil noch an die Nachbargemeinde verkauft. Jetzt sieht man um das Dorf ein paar grüne Fleckchen Saatfläche, aber das letzte Stück Vieh weidet darauf . . . Schwere Strafe droht den Marienburgern, dem Sowjet, dem örtlichen Hilfskomitee. Aber ich glaube nicht, daß einer auch nur wird imstande sein, sich zu verantworten. Man könnte sich vorstellen, wie er durch die Leidensgeschichte seines Dorfes verständige Richter vielleicht finden wird. Aber die Vorstellung ist müßig. Die Marienburger sind heute von der Welt so gut wie abgeschnitten. Für die Reichen aus den Nachbarsiedlungen gibt es dort nichts mehr zu holen. Arbeitskräfte nach außerhalb können die Marienburger nicht mehr stellen. Sie sind von selbst auf den Gedanken gekommen, sich als Arbeiter auf die Sowjetgüter zu verdingen. Aber man hat sie ausgelacht — die Marienburger und arbeiten, hieß es, und dann die Sowjetgüter — es war einmal ein schöner Plan, heute sind sie so gut wie verlassen, man hat sie kaum gesehen, Pferde und Zugtiere sind längst weiß Gott wo hin, zum Teufel, in einer Zeit, wo sie den Kristallisierungspunkt im Wiederaufbau bilden müßten, mit dem guten Beispiel vorangehen sollten, wo Hunderttausende an der Wolga gespannt auf die Arbeit der Sowjetgüter sehen — es ist ein Skandal und ein Verbrechen! Der einzige wirklich fähige Oekonom im Gebiet, ein Oesterreicher, ein studierter Mensch — wird am Schweinekoben beschäftigt. Aengst-lich hütet man sich, ihn in die Verwaltung hineinblicken zu lassen.
Es ist nur eine Parallele zu Marienburg. Auch Marienburg ist nur ein Name wie viele andere. In Marienthal, in Luzern und überall weiter hinein in die Steppe nach Osten ist es das gleiche. In anekdotischen Einzelheiten verschieden, in der Gesamtlage völlig gleich. Da gibt es kaum noch Rettung. Es wäre eine Lüge, wollte man etwas anderes sagen. Die Menschen draußen in der Steppe werden sterben. Daß sie nicht in der Lage sein werden, die Frühjahrssaat zu bestellen, darüber gibt sich auch heute die Verwaltung keiner Täuschung mehr hin. Vielleicht werden einige überwintern, aber die übergroße Mehrzahl wird zugrunde gehen. Vielleicht, wenn sie aus sich selbst heraus den brennenden Wunsch hätten, zu leben, sich selbst zu helfen, einen Funken eigener Initiative, er würde weiterspringen, übergreifen auf die Verwal¬tung, auf die Menschen ringsum, denen es ein klein wenig besser geht, vielleicht — der Mensch im Kampfe um die eigene Existenz verbringt manchmal Wunder. Dieses Wunder tut dringend not.
Orlowskoe
Das ist eine der Musterkolonien. Im ganzen Ort findet man kaum ein verfallenes Haus. Die einzelnen Grundstücke sind mit großen Obstgärten umgeben, eine Seltenheit im Wolgagebiet. Ein gemeinschaft'icher Weideplatz liegt außerhalb des Dorfes, weiter noch ein Wäldchen, das aller Ausrottungswut bisher standgehalten hat. Als ich nach Orlowskoe einbog, den Abhang eines Lehmberges scharf hinunter, das Wägelchen krachte in allen Fugen, pfiff durch die breiten Straßen ein eisiger Südost. Ich verwunderte mich nicht, keinen Menschen auf den Straßen zu sehen. Als ich aber näher zusah, merkte ich, daß die Häuser keine Fenster mehr hatten, mit Holzleisten waren die Fenster zugeschlossen und eine Querleiste darübergenagelt. Überall waren die Häuser verlassen, die Menschen geflohen. Aber die Flucht mußte in aller Ordnung vor sich gegangen sein. Nirgends sah man abgerissene Häuser und Dächer wie weiter draußen in den Steppendörfern. Der Wind rüttelte an den Toren, die Pfosten, noch aus starkem, frischem Holz, hielten kräftig stand. Es war ein organisierter Widerstand, den das Dorf gegen den Hunger leistete.
Der Platz um die lutherische Kirche lag verödet. In einem großen, noch weiß glänzenden Haus wurden ein paar Lichter angesteckt. Man sah eine Menge Gestalten durch das Fenster hin und her huschen. Es war das ehemalige Pfarrhaus, das gegenwärtig zum Kinderheim umgewandelt worden ist. Den Pfarrer hat man in etwas bescheidenere Verhältnisse umquartiert, Orlowskoi ist eine der Hauptetappenstationen für die Kinderevakuierung. Es ist Platz genug in Orlowskoe für die Kinder, Hunderte von Häusern stehen leer — dennoch schickt man auch die Orlowskoier selbst nach Baronsk, dem Mittelpunkt, der nur 15 Werst entfernt ist. Und dort bricht alle Organisation zusammen, weil man den Zustrom der Tausenden nicht bewältigen kann. Dafür hat man aber in Orlowskoi keine Kräfte, die sich dem Hilfswerk zur Verfügung stellen. Die Armen arbeiten zum größten Teil an dem Wegebau, der als Notstandsarbeit längs der Wolga ausgeführt wird. Sie arbeiten in der Filzbereitung, aus der dann die Filzstiefel, ein nationaler Industriezweig des Wolgagebietes, gewonnen werden. Nur die Arbeitsunfähigen sind für den Dienst im Ort zurückgeblieben. Die Reichen, die Lebensstarken, die Intelligenz des Ortes, haben Orlowskoi schon lange verlassen. Sie waren die ersten, die sich selbst auf Evakuierungslisten zu setzen verstanden. Sie haben sich die besten und für sie bequemsten Plätze ausgesucht. Sie saßen an der Quelle der Saatverteilung, und sie waren die ersten, die mit Produkten aus der Hilfsaktion beliefert wurden. Das wird noch und in der ganzen Welt oft so sein. Statt zu helfen, sind sie ausgerissen — die Lebensstärksten, die die Hilfsaktion in ihrer praktischen Durchführung hätten stützen können. Die vernagelten Fenster und Tore sind ihr letzter Gruß. Man sagt, daß gerade viele von den Orlowskoier Kulaken sich durch Schmiergelder bei der deutschen Fürsorgestelle in Moskau die Ein-reiseerlaubnis nach Deutschland verschafft haben. Sie warten dort bessere Zeiten ab und damit ihnen die Zeit nicht lang wird, haben sie einen Verein verbunden mit einer Landbank ins Leben gerufen, der auf verleumderische Hetze gegen die Kommunisten gegründet ist. Wer durch Orlowskoi fährt, den erfaßt der ganze Ekel, der aus der Atmosphäre dieser Menschen einem erwächst. Sie haben noch Millionen genug ge¬habt, die deuschen Grenzbeamten zu bestechen, noch heute macht die Kolonie den reichsten Eindruck von der ganzen Wolga — aber sie haben nicht einen Pfennig hergegeben, die Orlowskoier Kulaken, um das Dorf einen Damm zu errichten, die primitivsten Bewässerungsanlagen zu schaffeen, oder gar einen Windmotor für eine Brunnenleitung aufzustellen. Sie haben mit dem reichlichen Viehbestand gewuchert, als schon Tausende um sie herum Hungers starben. Sie haben's noch dazu, im Ausland zuzusehen, wie das Land über das Elend hinwegkommt — dann erst werden sie wieder kommen und wieder die andern um ein Stück Brot für sie arbeiten lassen. Der Ekel packt einen. Man sagt, daß die augenblickliche Verwaltung einen Vertreter ins Ausland geschickt hat, der diese Kulaken unter allerhand Versprechungen und Kon¬zessionen zurückrufen soll. Das sollte nie geschehen. Wie ist etwas derartiges überhaupt möglich! Die Leute sind den Fußtritt nicht wert, mit dem man sie sich vom Leibe hält. Die Konterrevolution deutschen Stammes scheint mir die schlimmste der ganzen Welt. Sie ist nicht nur brutal und heuchlerisch, sondern auch kulturlos. Die deutschen Pastoren des Wolgagebiets stehen oft unter dem Vieh. Laßt sie um Gottes Willen in ihren Berliner Vereinen weiter stinken. Ich suchte in Orlowskoi einen Menschen, auf dessen Mitarbeit in der Verwaltung die allergrößten Hoffnungen gesetzt wurden. Der Mann ist Lehrer und mehr noch Oekonom, und sein Einfluß unter den Bauern war ein ganz gewaltiger. Er hat sein Leben lang dafür gekämpft, die Kulturstufe der Wolgabauern zu heben. Er ist nicht müde geworden, immer neue Bilder von Musterwirtschaften und Siedlungen zu entwerfen. Die Russen der umliegenden Dörfer haben viel von ihm angenommen, seine deutschen Stammesgenossen nichts. Seine Predigten nach Kollektivwirtschaften gingen in die Luft.
Der deutsche Kolonist wehrte sich dagegen mit der Verbissenheit seines Stammes, wenn er seinen Eigensinn nicht aufgeben will. Dieser Mann ist ein guter Freund der Sowjets, wenngleich kein offizieller Kommunist. Er hat nur den einen Fehler, die Kollektivbewirtschaftung als ein Vorbild des Deutschtums unter nationalistischer Flagge zu verkünden. Aber erwird alles tun, was die Regierung von ihm wünscht, er stellt sich ganz zur Verfügung. Es gibt noch mehr solcher Leute im Gebiet, viel mehr als man denken mag. Aber die Verwaltung, die von der Kulakenatmosphäre durchseucht ist, läßt diese Männer nicht hoch. Man nützt sie zwar aus, weil der Befehl von oben vorliegt, aber ihre Flugblätter und Broschüren, ihre sonstige Wirkungsmöglichkeit bleibt ungenützt liegen. Tausende von den wichtigsten Aufklärungs-broschüren kommen gar nicht ins Dorf. Man findet sie auf dem Basar zum Einwickeln der Wucherwaren. Nun — diesen Mann in Orlowskoe wollte ich sprechen, vielleicht hätte ich zur Aufklärung etwa möglicher Mißverständnisse beitragen können. Aber ich konnte nichts dazu tun. Ich wurde in das Zimmer geführt eines Sterbenden. Der Kranke lag auf einem Bündel auf der Erde. Er wollte sich immer aufrichten und mit mir sprechen. Schließlich sagte er: Sie kommen gerade in der schlimmsten Krise. Vielleicht werde ich diese Nacht sterben. Aber Sie kommen auf alle Fälle nach fünf Tagen etwa noch mal wieder. — Dann wurde der Kranke ohnmächtig. Es war eine der peinlichsten Stunden meines Lebens. Schon seit drei Tagen hat man jede Stunde auf den Arzt gewartet. Ich hätte ihn leicht mitnehmen können. Mit letzter Kraft hatte sich dieser Mann aus dem Krankenhaus geflüchtet. Der Typhus schien schon überwunden, dann kam ein schwerer Rückfall. Ich hörte leider nicht mehr, ob die Krise überstanden ist, oder ob das andere, das Naturnotwendige eingetreten ist. Ich glaube fast, das letztere. Denn diese Worte schließen das Verständnis für die Gesamtsituation aus. So ist es an der Wolga. Es ist diesen Winter die Krise. Die Menschen sterben diesen Winter — oder ein Wunder muß geschehen
Neben seinen Amts- und Verwaltungsgeschäften war der Schultheiß verpflichtet, die Landacht (Naturallandessteuer in Form von Dinkel und Haber) gedroschen und ohne Spreu so abzuliefern, wie sie „der Besen zusammennimmt". Auch den „Bethaber" ( Fruchtsteuer, seit 1529 jährlich 6 Malter) und die herrschaftliche Steuer, jährlich 7 Gulden 53 Kreuzer, mußte er einsammeln und abliefern. Diese Steuer blieb von 1576 bis 1873 gleich. Dafür waren 100 Gulden seiner Güter steuerfrei und er durfte bei der Verteilung der Holzgabe, die jedem Bürger und dem Pfarrer durch das Los zugeteilt wurde, ohne Los auswählen, was ihm zusagte. Für 7 Kreuzer Taglohn mußte der Schultheiß den Kelter- und Erbwein unter der Kelter „zusammentun, empfangen und einsammeln". Der Kelterwein, die Abgabe für das Keltern, wurde in der „Fron gegen eine ordentliche Vesper" nach Güglingen gefahren. Die „Kelterrey-Fron" wurde 1720 mit 2 Gulden Frongeld abgelöst.
Leibeigenschaft
Ausgenommen das Pfarrhaus, bekam die Herrschaft aus jedem Haus, wo „Rauch gehalten wird". jährlich zwei alte Hennen. Die Gabe sollte den Leibeigenen immer an seinen Leibherrn erinnern. Der Schultheiß sammelte die Rauchhühner ein und lieferte sie in Güglingen ab. Schwangere behielten das Huhn, dessen Kopf aber abgeliefert werden mußte. Starb eine leibeigene Person, bekam ab 1720 der Herzog bei Männern ein Prozent, bei Frauen ein halbes Prozent der Hinterlassenschaft.
Работая над постановлениями Камышенского уездного земского собрания за 1867 год,меня заинтересовали данные на содержание Камышинской городской больницы.С какой скрупулезностью все расписано до мелочей.Выставляю часть готовых записей.
Сметное исчисление потребностей по содержанию Камышинской городской больницы
По содержанию Камышенкой городской больницы, учрежденной на 26 лиц мужского и 4 женского пола, всего на 30 человек
Предметы расхода План на 1868 г. Было в 1867 г. Объяснение
Жалование чинам и служащим при больнице
Городовому врачу 700 - 20 -
Смотрителю 200 - 160 - Предполагается квартира с отоплением и освещением при больнице
Ему же квартирных - 60 -
Писцу конторы - - - -
Фельдшеру 180 - 60 - Сообразно с содержанием
Двум платным служителям по 72 рубля 144 - 104 -
Приставнице 36 - 30 -
Прачке, она же поломойка 54 - 42 -
Повару или кухарке 54 - 42 -
На канцелярские расходы конторы 20 - 20 -
Сверх того на один год
Сюртук двубортный фельдшеру, брюки и жилет, на них темнозеленого сукна 4 ¾ аршина, по 2 рубля аршин 9 руб. 50 коп. Холста посконного на подкладку 12 аршин, по 8 коп – 96 коп. Голуна на воротник 14 вершков, по 20 коп. аршин 17 ½ коп всего.
Летние ему же панталоны из фламского полотна, 2 аршина по 35 коп. за аршин.70 коп. на подкладку холста посконного 2 аршина, по 8 коп. Всего 16 коп.
За шитье сюртука фельдшеру, брюк с пуговицами и жилета 4,5 рубля
Пища для больных презреваемых
Для 18 человек на ординарной порции примерно состоящих: хлеба ржаного, печеного по 2 фунта в сутки каждому – 36 фунтов, а в год 324 пуда по 50 коп за пуд.
Для трех человек на средней порции состоящих : хлеба ржаного, печеного по 1 фунту в сутки на каждого, 3 фунта, а в год 27 пудов, 15 фунтов, по 50 коп за пуд.
Для шести человек по слабой и трех по кисельной, примерно хлеба белого крупчатого по 1 фунту на каждого, в год 82 пуда 5 фунтов, по 2 рубля за пуд.
Говядины на 18 человек на ординарной и 6 человек на слыбых порциях, примерно по одному фунту на каждого- 24 фунта, а в год 216 пудов, по 2 рубля за пуд.
Говядины на 3 человека на средней порции по ½ фунта, в сутки 1,5 фунта ,в год 13 пудов 27 ¼ фунта, по 2 рубля за пуд.
Круп гречневых для 18 человек на ординарной и 3 человек 5 на средней порциях примерно состоящих по ½ фунт на каждого, в год 95 пудов 12 ½ фунтов, по 1 руб. за пуд
Круп гречневых для 6 человек на слабой порции примерно состоящих по ¼ фунта на каждого в сутки, в год 13 пудов 27,5 фунта .по 1 рублю за пуд.
Муки овсяной или пшеничной сеяной ,для 3 человек на кисельной порции примерно состоящих по 1 фунту на каждого, в год 27 пудов, 15 фунтов по 1 рублю за пуд.
Меду для 3 человек на кисельной порции примерно состоящей по ¼ фунта на каждого в сутки, в год 6 пудов 33 фунта, по 8 рублей за пуд.
Соли для 18 человек на ординарной порции по 7,5 злотника на каждого в сутки, в год 12 пудов 33 ¾ фунта, по 50 копеек за пуд.
Соли для 3 человек при средней порции по 6 золотников , в год 1 пуд 27,5 фунта. По 50 коп. за пуд
Соли для 6 человек на слабой и 3 на кисельной порциях состоящих по 5 злотников на каждого, а в год 4 пуда 11 фунтов по 50 коп. за пуд
Дальше идет - мёд, квас,солод,пиво, зелень, чай, масло, одежда,обувь и.т.д.